Mohn und Wiese: Gibt es sie noch?


Jeden Sommer bin ich auf Mohnblumen-Jagd. Nicht um sie zu schneiden, sondern um sie zu fotografieren. Das werden immer so herrliche Heile-Welt-Motive – die gehören zu meinem Juni wie Spaghetti-Eis und der Duft von Sonnencreme auf warmer Haut. Ich hole am späten Nachmittag mein Fahrrad aus dem Keller, setze mir meinen Foto-Rucksack auf und mache mich auf die Pirsch.

Als Kind hatte ich nicht weit zu radeln und war schnell am Ziel. Zahlreiche Wiesen gab es. Felder auch – sehr zur Freude meiner Mutter, die Kornblumen liebte. Was mir damals als Überfluss erschien, wurde von den Großeltern jedoch mit: „Das ist doch gar nichts, da hättest du mal die Blumen unserer Kindheit sehen sollen“, kommentiert.

Kaum noch Wiesen in Berlin. Ausnahme: die Cornelsenwiese.

Alles ist relativ. Das merke ich auch jetzt, wenn ich Ausschau nach roten Flecken halte. Ich lebe in Berlin. Einer Stadt, die im internationalen Vergleich zwar grün, aber gerade dabei ist, ihre letzten Fleckchen Natürlichkeit zu verramschen. Entsprechend lange radle ich, bis ich die ersten Mohnblüten ausmache. Und ich finde sie auch nicht wild, sondern in einem ungestylten Vorgarten. Die Margeriten, die ich euch zeige, wachsen im berlingarten, die Königskerzen in einem Nachbargarten in der Kolonie Oeynhausen. Die Storchschnäbel Geranium pratense gedeihen auf der Cornelsenwiese in Berlin-Wilmersdorf, einer der letzten Wiesen, die ich in meinem Umfeld kenne. Und prompt hat sie den begehrlichen Blick der Immobilienwirtschaft auf sich gezogen. Eine Bürgerinitiative kämpft.

Bäume werden einerseits gerodet, andererseits sollen Privatleute für neue spenden.

Typisch Berlin, könnte man sagen. Das innerstädtische „wilde Berlin“ kommt hauptsächlich noch auf den Mittelstreifen der großen Straßen vor. Oder auf Baumscheiben – die allerdings oft ihren Namen nicht mehr verdienen, da eingegangene Bäume nicht nachgesetzt werden. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz bettelt mit durch Steuergelder finanzierten Kampagnen öffentlich um Privatspenden für Baumpflanzungen. Und lässt an anderer Stelle die Rodung tausender Bäume in Gartenanlagen zu. Nicht heile Welt: verkehrte Welt.

Ich archiviere jetzt meine Mohn- und Wiesenblumen-Fotos sorgsam, damit ich später meinen Enkeln die Raritäten zeigen kann. Unter Bäumen werden wir hoffentlich noch sitzen können – wenn sich genügend spendable Privatpersonen finden.

Alle Fotos vergrößern sich durch anklicken.

Über mich

Hallo, ich bin Xenia,

Gartenfachberaterin und seit 10 Jahren Gartenbloggerin auf berlingarten.de, dem ausgezeichneten Gartenblog.
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